Viertel nach vor
Wabernde labernde digitale Massen, Nullen und Einsen, unentschieden, eine psychedelische Endlosreise durch sich vielfach überlagernde Projektionen: 41 Bilder des Turms der Garnisonkirche Potsdam, entstanden in den Jahren 1730 bis 2019.
1732 eingeweiht und dem König unterstellt, wurde die Garnisonkirche 1945 in Kriegshandlungen beschädigt und 1968 gesprengt. In den dazwischenliegenden 236 Jahren symbolisierte sie nicht nur den ‚Geist von Potsdam’. Mit dem hier erfolgten symbolträchtigen Handschlag zwischen Reichspräsident Paul von Hindenburg und dem eben zum Reichskanzler ernannten Adolf Hitler im März 1933 ist sie auch Symbol der den Nationalsozialismus propagandistisch legitimierenden Konstruktion einer Kontinuität zwischen eben diesem und Preußen.
Um den vollständigen Nachbau der Kirche und den in diesem Fall unumgänglichen Abriss des heute dort stehenden Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum wird seit Jahrzehnten unter breiter Beteiligung verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen heftig gestritten. Nicht zuletzt fördert die Bundesregierung die „Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche“, die einen vollständigen Nachbau der historischen Kulisse fordert – was die gesamtdeutsche, politische Tragweite dieses Projektes zeigt. In diese Debatte ist die Arbeit Daniel Pollers eingebettet: Der Turm der Kirche, der in diesem Loop als Ansammlung ineinander verschmolzener historischer und imaginiert zukünftiger Bilder sichtbar wird, ist bereits im Entstehen. In welche Richtung die Zeiger seiner Uhr sich bewegen werden, wird der Ausgang der Diskussion zeigen. Noch ist es unentschieden.
Inka Schube
Berlin nach '89
Berlin – kreativ, urban, und zukunftsgewandt. Diese Stichworte sind im Stadmarketing präsent und sollen positive Assoziationsketten auslösen. Doch die bauliche Realität ist vielerorts in Berlin eine andere. Gebaut wurde in den letzten Dekaden neben anspruchslosen Investorenarchitekturen oftmals eine hochpreisige und historisierende Architektur; Carrés, Ensembles, Villen, Residenzen, und Townhouses. Eine Architektur, die auf Gediegenheit setzt.
Auf Grundlage des Architekturführers Retrospektive Bauen in Berlin seit 1975 von Verena Hartbaum hat es sich der Künstler Daniel Poller zur Aufgabe gemacht, die schiere Masse derartiger Architekturen fotografisch zu übersetzen. Nicht nur mit dem Titel bezieht sich Poller dabei bewusst auf die 1980 entstandene Werkgruppe „Berlin nach 45“ von Michael Schmidt: In der Bildsprache der New Topographics nahm Schmidt Räume seiner Heimatstadt Berlin in den Blick, die den Zweiten Weltkrieg noch in sich trugen: weite Brachen, menschenleere Ruinen und schmucklose Neubauten im Sand – Leere, Monotonie und Horizontalen wurden durch querformatige Bilder unterstrichen. Die Serie von Poller hingegen besteht aus überwiegend Hochformaten, die – aneinandergesetzt – die baulichen Motive zu einem Gefühl von Enge und Bedrängnis verdichten. Neben pseudo-historischen Bauten, die wie aus dem 3D-Drucker seriell geüplottet erscheinen, wirken auch die Menschen wie Figuren aus der CAD-Bibliothek.
Seine Arbeit provoziert Fragestellungen: Woher rührt das Bedürfnis, Architektur zum Instrument einer Rekonstruktion von Vergangenheit zu machen – und nicht etwa einer noch zu erfindenden Zukunft? Wann begann diese Historisierung des Stadtraums und der gebauten Umwelt? Wenngleich die Anfänge der sogenannten Rekonstruktionsbewegung bis in die 1970er und der 1980er Jahre zurückreichen, stellt der Mauerfall auch hier eine entscheidende Zäsur dar. Berlin sollte baulich-symbolisch Aushängeschild eines wiedervereinigten, „normalisierten“ Deutschlands werden. Hierfür galt es, den Osten architektonisch zu überschreiben und städteräumlich wie historisch eine Vereinheitlichung herzustellen. Diese Bewegung begann mit der „Berlinischen Architektur“ und mündete schließlich in jenen Neohistorismus, der heute das Bauen vielerorts prägt. Die historischen Zitate haben oftmals keine andere Funktion als die Suggestion einer historischen Linearität, die identitätsstiftend wirken soll. Die von Poller fotografisch festgehaltenen Bauten erscheinen vor diesem Hintergrund als anachronistische architektonische Artikulationen einer Gesellschaft, die in ihrer baulichen Formsprache die Idee einer möglichen Zukunft verloren hat und sich anstelle dessen an „Retrotopien“ (Zygmunt Baumann) ergötzt.
Anh-Linh Ngo
»Der große Gewinn«
Die Zierfassade des Braunschweiger Stadtschlosses – durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört und 1960 abgerissen – existiert seit 2007 wieder als ein mit wenigen Originalsteinen durchsetzter Nachbau. Dahinter, im Hauptgebäude, in den anschließenden Flügeln und im Ehrenhof ist ein Einkaufszentrum im Antlitz zeitgenössischer Glasfassadenarchitektur untergebracht. Die komplexe Geschichte zum Wiederaufbau und Zerstörung des Schlosses verhandelt der in Berlin und Leipzig tätige Künstler Daniel Poller (Jahrgang 1984) in seiner aus elf Pigmentprints bestehenden Serie „Der große Gewinn“ von 2017.
Es handelt sich um eine Art Negativmalerei, insofern als die Leinwand die Bilder bereits als Druck enthält und der formgebende Pinsel Löschspuren hinterlässt. Ausgangspunkt für die Werkgenese sind hierfür ein Kalender mit historischen Ansichten des Schlosses und ein Radiergummi mit dem Aufdruck der Welfen-Krone – beides vor Ort im Schloss-Museums-Shop erhältlich. Poller reproduzierte und vergrößerte die Kalenderblätter. Dann optimierte er die Neudrucke teilweise mit dem Radiergummi, der bezeichnenderweise durch seinen heraldischen Aufdruck auf den ehemaligen Schlosseigentümer verweist. Der Eindruck entsteht, dass der Eigentümer die Aktion des Ausradierens seiner fotografierten Bausubstanz sogar legitimiert hätte. Die entstandenen weißen Bombenkrater sind allerdings nicht zur freien künstlerischen Gestaltungsfläche ausgeschrieben worden, um einen piktoralen Neubau der Schlossansichten zu betreiben.
Im Gegensatz hierzu steht das historische Gelände des Braunschweiger Schlosses, dass durch die Architektur eine zeitgenössische Überschreibung erfahren hat, in der Wirtschaftsinteressen und Kulturpolitik eine idealtypische Symbiose eingegangen sind. Als vermeintliche Rettungsaktion für das Stadtbild repräsentiert dieser Neubau eine unveränderliche, weil materiell gewordene Totalinterpretation der Vergangenheit. Der architektonische Wahrheitsanspruch speist sich dabei größtenteils aus der zweidimensionalen Welt der Fotografie. Doch dieser Bildspeicher zum Braunschweiger Schloss besitzt keinen Vollständigkeitsanspruch. Er ist zufällig im Zeit- ausschnitt, subjektiv in der Motivauswahl und behauptet allein durch sein apparatives Zustandekommen Objektivität.
In Analogie hierzu stehen Pollers manuelle Ausradierungen der Bildoberfläche. Er löscht mit dem skeptischen Bewusstsein, dass Fehlinterpretationen bei der Inanspruchnahme von Geschichte unvermeidbar sind, die intakten Bildzeichen gezielt auf den historischen Fotografien zum Braunschweiger Stadtschloss aus und verlagert dabei die künstlerische Perspektive von der passiven Dokumentation zur aktiven Dekonstruktion der Schlossarchitektur. Es handelt sich dabei, so könnte man meinen, um eine Art konstruktiv ikonoklastischer Unruhe des Künstlers im Umgang mit vorhandenen Fotografien und deren Verwendung.
In „Der große Gewinn“ wird Historie als visueller Freiraum artikuliert, der im Kontrast zu der als „Originalrekonstruktion“ bezeichneten Zierfassade des Schlosses steht und mit kritischem Blick den Prozess der Aneigung und Interpretation der Vergangenheit fortschreibt.
Marcus Andrew Hurttig
Tagesspiegel 02.07.2018
Geschichte, ausradiert. Aufbau, Abriss, Wiederaufbau: In Deutschland scheint man sich seit 1945 nicht ganz sicher im Umgang mit verwundeter historischer Substanz zu sein. Das Braunschweiger Schloss wurde – ebenso wie das Berliner – im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, später abgerissen und noch etwas später partiell rekonstruiert. In Braunschweig wartet nun hinter der Kulisse: eine Shoppingmall. Der junge in Berlin und Leipzig lebende Künstler Daniel Poller hat sich für seine Serie „Der große Gewinn“ mit Radiergummi und einem Kalender alter Fotografien bewaffnet.
Sie zeigen die originale Architektur mit ihren festlichen Innenräumen. Poller interpretiert diese Motive in seiner elfteiligen Serie großer Pigmentdrucke nach seinem Willen um. Genau wie die Architekten und alle Befürworter jener Braunschweiger „Rekonstruktion“, die bloß noch als Hülle dient. Hier wird konsumiert statt regiert, die Funktion der Fassade mit ihren Insignien welfischer Macht schrumpft zur puren Dekoration. Diese Umdeutung von Architektur im öffentlichen Raum und die daraus resultierende Verfälschung von Geschichte ist ein zentrales Thema im Werk von Poller. Seine fotografischen Untersuchungen beleuchten die Umcodierung der Vergangenheit.
cmx
Bild, Raum, Wort – Die Sprache der Architektur
Alles lässt sich verändern. Manchmal mit den einfachsten Mitteln. »durch einfache Krafteinwirkung« heißt eine Arbeit von Daniel Poller. Der juristisch anmutenden Terminus klingt wie ein Stereotyp aus dem Polizeiprotokoll: Durch einfache Krafteinwirkung wurde öffentlicher Besitz zerstört, beschädigt, fragmentiert oder verformt.
Die von Daniel Poller fotografierten Skulpturen, Reliefs, Friese, Sockel und Säulen, die im Stadtraum oder Park auf die Anwesenheit von Geschichte, die Bevorzugung einer bestimmte Ästhetik und die Anstrengungen zur Erhaltung von Kulturgut verweisen, sind sichtbar beschädigt.
Die Auflösung der Erhabenheit und Einheit der repräsentativen Formen und Gesten geschieht »en passant«. Bedeutung und Verweiskraft von geschichtsträchtigen Monumenten und Skulpturen sind den meisten Stadtbewohnern ohnehin unbekannt. Die Geschichte flankiert die tägliche Routine: An jeder Ecke kann uns ein historischer, politischer, ideologischer und sozialer Ausdruck die Richtung weisen.
In Pollers Arbeit wird sichtbar, wie die steinernen und marmornen Gespenster umcodiert, dechiffriert oder kompromittiert werden. Durch einfache Krafteinwirkung lässt sich ein Objekt unmittelbar beschädigen, ein neues Bild hervorbringen und gleichzeitig ein Stück Geschichte demontieren.
Daniel Poller thematisiert in seiner künstlerischen Arbeit die Konfliktlinien, die zwischen der Rekonstruktion und dem permanenten Recycling von Bildern und einer damit einhergehenden Festschreibung von kultureller Bedeutung verlaufen.
Die Gesellschaft hat immer einen Zugriff auf die Vergangenheit und bewertet die vermeintlich wichtigen Ereignisse und Errungenschaften in Form von Museums- und Gedenkkultur. Die Städte sind voll von Zeugnissen tatsächlicher und gefälschter Geschichte. Kulturelle und historische Werte werden unter dem Deckmantel der Bewahrung eines gesellschaftlichen Erbes definiert. Historische Rekonstruktionen stehen europaweit hoch im Kurs. Früher oder später ersetzt die Replik das Original und wird zum Träger einer nie gekannten Wahrheit.
Und dieses Themenfeld umkreist Poller beständig. Wenn er z. B. in Budapest die Restaurierung und Rekonstruktion des Parlamentes und des historischen Vorplatzes dokumentiert, dann nicht aus der Perspektive des klassischen Dokumentaristen. Vielmehr verweist er durch seine verschachtelten und übereinander gelagerten Bildkompositionen auf die Vieldeutigkeit und die manipulativen Aspekte dieses Bauvorhabens. In seinem Künstlerbuch »field notes of fences« wird sichtbar wie massiv und an jeder »historischen Wahrheit« vorbei, Politik und Stadtverwaltung ihr Verständnis von Kultur und Identität dem öffentlichen Raum aufzwingen.
So wie die Sprache die Wirklichkeit durchdringt, prägt, beschreibt und möglicherweise erst erschafft, so schafft auch die Architektur und ihr fotografisches Abbild eine weitere Ebene der Repräsentation und Definition von Wirklichkeit. In diesem Sinne dekonstruiert und analysiert Daniel Poller nicht nur die Architektur und ihre Abbilder, sondern gleichermaßen die Funktion der Fotografie. Diese war schon immer ein Mittel der Interpretation und der Überzeichnung. Manifestation und Reflexion sind unterschiedliche Verfahrensweisen desselben Mediums. Struktur und Duktus der Sprache, ganz gleich ob es sich um Worte, Räume oder Bilder handelt, entscheiden darüber, wie wir die Wirklichkeit gestalten und wahrnehmen.
Daniel Poller zerpflückt, verschiebt und ordnet in einem produktiven Sinne diverse Formen von Architekturkonzepten und Bildwelten. Die dadurch entstehende Dynamik und Instabilität lösen jeden visuellen und historischen Ruhepunkt auf. Kontinuität entsteht allenfalls für Momente, dann zerfallen die Bilder wieder und müssen erneut zusammengesetzt werden.
Maik Schlüter
Superimposed Images – Traces, Histories and Approaches
Everything undergoes change – sometimes with the simplest means. ‘through mere impact’ is the title of a work by Daniel Poller. Its mild juristic undertone evokes something from a police report: through mere impact, public property was damaged, dismembered, deformed or destroyed.
Sculptures, reliefs, friezes, pedestals and pillars in urban spaces and parks –reflecting history, the preference for a certain aesthetics and the effort to preserve cultural heritage, the objects Poller photographs have been visibly damaged.
Dissolution of the sublimity and unity of the representative forms and gestures takes place in passing. Most city residents are simply unaware of the meaning and referential power of monuments and sculptures that have been suffused with history. History flanks the everyday routine: on every corner, a historical, political, ideological or social expression can show us the way.
Poller’s work sheds light on the way spectres of stone and marble are decoded, deciphered or redefined. Through mere impact an object may be damaged, a new image produced, and at the same time a piece of history dismounted. A theme of Poller’s work is the lines of conflict, drawn between constant processes of reconstructing and recycling images and the accompanying processes of instituting cultural meaning.
Society has constant access to the past. In museums and cultures of remembrance it evaluates those events and achievements deemed significant. Cities are strewn with traces of actual and fictitious history. Cultural and historical values are defined under the pretext of the conservation of social heritage. Historical reconstructions are ubiquitous throughout Europe. Sooner or later the replica replaces the original and becomes a bearer of thus far unknown truth.
And Poller returns to these themes again and again. If he documents, for example, the restoration and reconstruction of the parliament and the historical courtyard in Budapest, then he does so not from the perspective of a classical documentarist. Rather, through his interlaced compositions of superimposed images, he points to the many meanings and manipulative layers of this construction project. In his artist book ‘field notes of fences’ it becomes clear the extent to which politics and city administration, skirting past every ‘historical truth’, impose their understanding of culture and identity on public space.
Just as language penetrates, shapes, describes and even brings forth reality, architecture too, along with its photographic documentation, introduces a new dimension in the representation and definition of reality. In this sense, Daniel Poller deconstructs and analyses not only architecture and its representations, but equally the function of photography. This has always been a means of interpretation and transmission. Manifestation and reflection are different approaches of the same medium. The structure and cadence of language, whether in words, rooms or images, determine how we fashion and perceive reality.
Daniel Poller picks apart, shifts and orders diverse forms of architectural concepts and visual worlds. The dynamic and unstable outcome dissolves every visual and historical point of rest. Continuity arises at most for moments, then the images disintegrate before being re-assembled once again.
Trümmertanz
"Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, // Und neues Leben blüht aus den Ruinen." - Friedrich Schiller, Wilhelm Tell IV,2
Bei erster Betrachtung mag dies der Ansatz sein für die 6 ausgestellten Archivfotos im Düsseldorfer Malkasten. Wir sehen das angestammte Haus der Künstlervereinigung in verschieden Zuständen vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
1943 begegnet uns die innere Treppenlandschaft noch unversehrt, aber fast ein bisschen leblos und geradezu abstrakt. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren dann das komplette Gegenteil: die Fotos der Jahre 1945 und 1948 zelebrieren Menschen in all ihrer Lebenskraft, wie sie etwa das Wappen des Malkastens bergen oder in den Trümmern sich, den Verein und das Leben feiern. In seinen Memoiren beschreibt Helmut Hentrich, Mitglied, Vorstandsvorsitzender und späterer Wiederaufbauarchitekt des Malkastens, diese Abende, die schon unter anderem von der englischen Besatzungsmacht und deren Alkoholvorräten profitierten.
Ist die Auswahl, die wir hier sehen, also ein künstlerischer Blick in die Vergangenheit des 1848 gegründeten Künstlervereins? Schon beim zweiten Blick wird deutlich, dass dieser Ansatz nicht ausreichend ist.
Die ausgestellten Fotografien sind nicht die Originale, es sind Reproduktionen, die auch keinen Zweifel an ihrer eigenen Natur lassen. Durch die abgebildeten Archivtüten mit aufgeschriebenen Nummern wird nicht nur der situative Kontext deutlich, auch die Schneidematten und nicht zuletzt das beschnittene Foto distanzieren uns vom historischen Moment im Bild und verweisen uns auf den konkreten fotografischen Abzug.
Historische Objekte neu zu arrangieren, sie zu reproduzieren und zweckzuentfremden, ihren bisherigen Kontext zu hinterfragen und gegebenenfalls auch Eingriffe vorzunehmen; für diese Auseinandersetzung mit Orten, ihrer Geschichte und deren Geschichten sind die beiden von Katja Stuke eingeladenen Künstler, Daniel Poller und Christoph Westermeier, bekannt. Zwei Beispiele sollen den Anknüpfungspunkt beider Künstler zueinander und zur Ausstellung „Trümmertanz“ verdeutlichen:
Daniel Poller hat sich mit dem Wiederaufbau des Braunschweiger Stadtschlosses in seiner Serie „Der große Gewinn“ (2017) auseinandergesetzt, in der er historischen Schlossansichten aus einem Kalender des Museumsshops in 11 Pigmentdrucken vergrößerte und danach Stellen wortwörtlich ausradierte.
Christoph Westermeier hat 2016 mit seiner ganz eigenen Variante der Kavalierstour die Fragen gestellt was wir sehen wollen, was wir sehen sollen, und was wir tatsächlich sehen. Fotografien aus Istanbul, Moskau, Neapel und Yekaterinburg zeigen Fassaden, Scheinfassaden, Bauplanen mit aufgedruckten Fassaden und den Künstler in klassischer Posen zwischen Ruinen. Oft sind Orte bzw. Ebenen nicht ganz zu erfassen und die Frage nach echt oder unecht, authentisch oder (dar)gestellt lässt sich nicht immer beantworten.
Daher wundert es nicht, das sich in dieser gemeinsamen Ausstellung nach jedem Blick weitere Ebenen eröffnen. Die Fotografien aus dem Archiv des Malkastens bilden lediglich den Ausgangspunkt für ein Ausstellungskonzept, das eine größere Installation hervorbringt.
Neben den klassisch präsentierten Reproduktionen der Archivbilder haben sich die Künstler mit einem weiteren Aspekt des Hauses auseinandergesetzt: dem mehrteiligen Tapetenfries mit der Darstellung der Geschichte von Armor und Psyche in einzelnen großen Tableaus.
Diese Tapete, ca. 1815-16 bei der Pariser Manufaktur Dufour et Cie herausgebracht, stellt ein beliebtes Motiv dar, das in sich schon mehrere Bedeutungswandlungen erlebt hat. Heutige Darstellungen greifen vor allem auf die Schöpfung des Schriftsteller und Philopsophen Apuleius aus dem 2. Jahrhundert zurück, der in seinem Roman Metamorphosen die Geschichte von Amor und Psyche als eine Geschichte in einer Geschichte einbettet in die Erzählung über das Mädchen Charite.
Wie üblich stehen dabei heimliche Liebe, antike Rätsel, Heldinnenaufgaben, Verbote und deren Missachtung sowie Ränkespiele im Zentrum. Es gibt aber ein Happy End, bei dem die Liebe siegt und Psyche sogar von Göttervater Jupiter selbst zur Unsterblichen erhoben wird. In der bildenden Kunst ist hat sich das Liebespaar vielfältig manifestiert und ist schließlich zu einem beliebten Dekorationselement geworden. Allein in Deutschland finden sich mehrere historische Beispiele in Museen und Schlössern, in denen eine Wand oder ein Raum mit der (Bilder)Geschichte von Amor und Psyche tapeziert ist.
Im zweiten – aber untrennbaren – Teil ihrer Installation dekonstruieren Poller und Westermeier den Tapetenfries – der ohnehin schon nicht ganz vollständig und in etwas verdrehter Reihenfolge im Jacobihaus angebracht ist – und konzentrieren den Blick auf Details. Dabei stellen sie erneut Metaebenen her, indem sie gerade die Schäden und Fehlstellen nicht ignorieren oder gar retouchieren, sondern ganz im Gegenteil ins Zentrum rücken. Diese scheinen vor allem von Getränke feuchtfröhlicher Feierlichkeiten zu stammen.
Die Reproduktionen der Tapetenbilder stellen also – genau wie die der Archivbilder – einen Bezug zur Welt außerhalb der eigenen Bildwelt her. Spuren vergangener Feste sind unauslöschlich in die Bildwelt von Amor und Psyche eingedrungen.
Poller und Westermeier haben ihre Auswahl von 22 Bildern Stoß an Stoß reproduziert, und diese 111x335m großen Bahnen beidseitig hängend über 11 handelsüblichen Hängesystemen installiert, wie man sie für austauschbare Hintergründe in Fotostudios benutzt. Die 1,90m hohen Gestelle fügen ein starkes, neues Element für den Betrachter hinzu: die Bewegung.
Man wird man von den kontextlosen Details und den zerfallenen Formen eingefangen und wieder abgestoßen, verwirrt und verzückt.
Hier scheint sich auch die Fragestellung zu akkumulieren, die sich immer um die zwei Wörter aus dem Titel dreht: Trümmer und Tanz.
Doch es gibt selbstverständlich noch eine weitere Bedeutungsebene, die uns vor die Frage stellt: wie gehen wir mit Zerstörung, mit Schäden in unserem Lebensumfeld, mit Ruinen um?
Ganz nüchtern betrachtet gibt es mehrere Möglichkeiten. Die Entscheidungsfindungen für oder gegen eine Lösung sind oft langwierig, diskussionsreich, emotional und auch immer eine Frage der Finanzierung.
Man kann etwas Zerstörtes vernichten um Platz für Neues zu schaffen. Dies wird meist für als historisch unbedeutend angesehene Gebäude angewandt, und so finden sich in vielen deutschen Städten Nachkriegsstadtlandschaften, die ihrerseits jetzt in einer Art Kreislauf wieder einer Modernisierung weichen müssen.
Man kann die Ruine oder die Beschädigung bewahren, als Zeuge einer (Objekt)Geschichte. Manchmal ergeben diese bewahrten Ruinen ein Mahnmal, meist handelt es sich aber um unwiderlegbare Beweise einer Vergangenheit, die man im bestmöglichen Zustand bewahren aber unter keinen Umständen verfälschen will. Die „erhabene“ Ruine in künstlerischen Bildwerken zeugt aber oft auch von einem heroisierten, oft nicht historisch belegbaren „Goldenen Zeitalter“.
Man kann Zerstörtes oder Beschädigtes wiederaufbauen oder restaurieren. Oft werden bei dieser Methode auch alte Teile in neue integriert. Dies trifft auch auf das Jacobihaus zu.
Das 1861 vom Künstlerverein Malkasten erworbene Haus des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) mit großangelegtem Garten war bereits damals ein historischer Ort, an dem sich Ende des 18. Jahrhunderts der Jacobi-Kreis traf, von dem wichtige geistesgeschichtliche Impulse ausgingen. Nach mehreren Maßnahmen zur Finanzierung zog der Malkasten am 14. Juli 1860 feierlich in den Garten ein. Am 18. Juli 1864 wurde der Grundstein für das Fest- und Gesellschaftshaus gelegt, welches am 14. Mai 1867 eingeweiht wurde.
1947/49 wurde das beschädigte Jacobihaus rekonstruiert. Hierbei ist aber zu bedenken, dass das Vereinsgebäude des Malkastens heute eigentlich aus zwei Gebäuden besteht, dem „Jacobihaus“ und dem „Hentrichhaus“. Die Architekten Helmut Hentrich und Hans Heuser waren für den Wiederaufbau verantwortlich und der zu stark zerstörte Teil wurde 1951 abgerissen und drei Jahre später durch ein modernes Eingangsgebäude ersetzt.
In einer Drehbewegung sind wir doch wieder beim Feiern und Tanzen gelandet. Und wie beim überschwänglichen Tanzen und Feiern weiß man am Ende vielleicht nicht mehr, wo oben und unten ist, was Bestand hat und was nur der Augenblick verspricht. Wir nehmen ortsspezifische Situationen oft als gegeben hin; etwas sieht historisch aus, also ist es das wahrscheinlich auch. Doch dabei können Bruchstücke verschwinden, Einzelteile neu verortet werden – wie etwa die Treppe im Inneren des Jacobihauses, die bei der Rekonstruktion aus einem anderen beschädigten Haus entnommen und hier eingesetzt wurde – oder ganze Ortsgefüge neu entstehen.
Immer mehr Fragen drängen sich auf: Was ist Fassade, was ist echter Kern? Ist Rekonstruktion ein Mittel um Geschichte zu bewahren oder Augenwischerei, ein Festklammern am Vergangenem? Was ist authentisch? Was bedeutet authentisch? Was bedeutet mir Authentizität?
Im Rückblick auf das Schillerzitat ist zu sagen, dass tatsächlich Neues aus Ruinen aufblüht; sei es neuer Lebensmut, eine Aufbruchstimmung oder neue Gebäude (egal ob rekonstruiert oder Neubau). Aber das ist nur der Anfang; die Entscheidung, wie man mit Trümmern umgeht, ist nur der erste Schritt. Die weiteren danach können diese Entscheidung hinterfragen, und dabei ganz wertfrei – aber nicht unkritisch – einen neuen Blick drauf werfen und vielleicht zukünftige Entscheidungen neu gestalten.
Durch die Arbeit von Daniel Poller und Christoph Westermeier werden unsere Sehgewohnheiten auf die Probe gestellt und wir werden aus unserem gewohnten Tritt gebracht um eine Umdrehung mehr zu machen, zu taumeln und uns neu zu sammeln, und am Ende eine neue Perspektive einzunehmen. Wie im Tanz muss man sich durch diese sich auflösende Bilderwelt hindurch bewegen und verliert fast wie im dionysischen Rausch den Halt. Viel näher kommt man ohne entsprechende Getränke der Feiervergangenheit im Malkasten wohl kaum.
Text: Ines Rüttinger
Stone Record at the Pipe Factory Glasgow
Daniel Poller
Stone Record
08/10 - 6/11
Preview 07/10 6pm
Artist in Conversation with Toby Paterson and guests, TBC 4/11 6pm
The Pipe Factory freut sich, unterstützt durch das Goethe Institut Glasgow und den Hope Scott Trust, mit STONE RECORD die neuesten Arbeiten des in Leipzig lebenden Künstlers Daniel Poller präsentieren zu dürfen.
Poller untersucht, in eigens für die Ausstellung produzierten Arbeiten, die Transformation, Rekonstruktion und Wiederverwertung gebauter Umwelt. Als Ausgangspunkt diente ihm das Stevenson Institute in Largs. Das aus dem 19. Jahrhundert stammende Schulgebäude, ein kirchturmähnlicher Bau, war in seine einzelnen Bestandteile zerlegt worden.
2012 wurde der Glockenturm in Auftrag Historic Scotlands manuell abgetragen, durchnummeriert und für einen eventuellen Wiederaufbau in der Zukunft eingelagert.
Im Zuge Seiner Auseinandersetzung mit conversions und façadism während einer Residenz in Cove Park stieß Poller auf dieses spezifische Steinlager. Kurz darauf wurde der Turm wieder aufgebaut und befindet sich seither 5,2m von seinem ursprünglichen Standort entfernt als ornamentale Fassade an der Front eines sozialen Wohnungsbaus wieder.
Während mehrerer Reisen durch Schottland dokumentierte Poller verschiedenste Fälle transformierter historischer Bausubstanz und somit das Zustandekommen palimpsestuöser Stadtbilder. In seiner Arbeit STONE RECORD spielt Poller mit den sichtbar aufeinandergelegten Ebenen von Geschichte. Durch das Zerlegen und neu Zusammenfügen von Gebäuden in seinen Bildern lässt er das Zustandekommen kulturellen Erbes sichtbar werden.
Als sogenanntes „B listed building“ spiegelt der Ausstellungsort The Pipe Factory, ein aus dem 19.Jhd. stammendes umgenutztes Gebäude, exemplarisch den in Pollers Arbeit thematisierten Prozess wider.
Auch in dem Ausstellungsraum The Pipe Factory selbst greift Poller ein und stellt eine neue räumliche Konstellation her. Damit setzt er seine Untersuchung der Politiken des architektonischen Erbes vom Bild in den Rau fort.
Daniel Poller wurde 1984 in der DDR geboren und studierte bis 2013 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig Fotografie. Seit 2015 ist er dort Meisterschüler von Prof. Joachim Brohm. Seine Arbeit wurde international ausgestellt. Unter Anderem war er 2016 Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, 2015 Preisträger des Aenne-Biermann-Preises für Deutsche Gegenwartsfotografie und hatte 2014 eine Residence in Cove Park Schottland.
Europäischer-Architekturfotografie-Preis
Unsere Städte sind permanent im Werden. Umbau, Abriss, Neubau in nie endender Wiederkehr. Das ist notwendig, um unsere gebaute Umwelt an gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse anzupassen, aber erschwert uns oft den Alltag und setzt uns Grenzen in Form von neuen Baustellen, Umleitungen, Staus in den Weg.
Diese Geschichte erzählt Daniel Poller in seinen Bildern, die auf den ersten Blick so scheinbar harmlos alltägliche Straßenszenen dokumentieren. Beim näheren Hinschauen entwickelt sich jedoch in der Tiefe der Bilder ein weiteres komplexes Spiel von Abschirmung und Öffnung, von Fassade und Volumen.
Wie übergroße Spolien stehen historische Fassaden ohne Funktion an der Straße und kaschieren dahinterliegende Gebäude. Zeitgenössische Bauten drängen sich an die historischen Überbleibsel, überformen sie und degradieren sie zu Kulissen.
Anne Schmedding
Aenne-Biermann-Preis für deutsche Gegenwartsfotografie 2015
Auszug aus der Jurybegründung:
[...] Aus Ihnen wählte die Jury, bestehend aus Clara Bahlsen (Berlin), Dr. Verena Titze (Wiesbaden) als Vertreterin des Mitveranstalters SV SparkassenVersicherung, Ulrich Domröse (Berlin), Prof. Thomas Weski (Leipzig) und Holger Peter Saupe (Gera) die Preisträgerfotos aus. Es wurden je ein erster, zweiter und dritter Preis sowie vier Anerkennungen vergeben. Den diesjährigen Aenne-Biermann-Preis für deutsche Gegenwartsfotografie erhält Daniel Poller aus Leipzig. Seine Arbeiten »durch einfache Krafteinwirkung« sowie »field notes of fences« überzeugten die Jury durch ihre konsequente Durchbrechung der dokumentarischen Perspektiven des Mediums Fotografie und einer darauf aufbauenden, durchdachten bildnerischen Konstruktion von Wirklichkeit.
Basis der Arbeit »durch einfache Krafteinwirkung« sind Skulpturen im öffentlichen urbanen Raum. Daniel Poller versteht sich in seinen fotografischen Annäherungen an seine Motivwelt im positiven Sinne ausdrücklich als Bilderstürmer, als Ikonoklast : Ikonoklasmen versetzen den statischen Bildraum von Skulpturen in Bewegung und bringen Bilder zweiter Ordnung hervor : Bilder nach Bildern. Das wesentliche Bildproduktionsmittel des Bilderstürmers – wie auch des Fotografen – ist das Zerlegen vorherrschender Bildräume. Erstgenannter produziert Bilder, indem er Bildwerke zerstört, zweitgenannter, indem er Ausschnitte sucht. Diese doppelte Arbeit am Bild – das Neu und Wiederzusammensetzen von Bildern aus Bildern – steht im Zentrum des Werkes.« Die Arbeit »field notes of fences« verhandelt die nicht unumstrittene Restauration des ungarischen Parlaments samt seines Vorplatzes. Nach Plänen der Regierung Orbán sollte der künstlerische Anblick des Platzes wieder in seinen traditionellen Zustand von vor 1944 erschaffen werden. In der Arbeit treffen jeweils zwei Fotografien aufeinander, wobei historische Zaunansichten und digitale Renderings des Zukünftigen mit dem dokumentarischen Bild in eine visuelle Konkurrenz treten. Ein fiktiver Dialog zwischen Regierung (gekennzeichnet durch HG) und Kritiker (BD) eröffnet eine weitere Ebene.
Jede Wahrnehmung sichtbarer Formen beruht auf Interpretation. Diese Feststellung, die auch auf fotografische Bilder zutrifft, manifestiert sich in Daniel Pollers Arbeiten auf erstaunliche Weise. Er überwindet durch sein Vorgehen nicht nur festgefahrene Sehgewohnheiten und Konventionen, sondern er bindet den aufmerksamen und unvoreingenommenen Rezipienten mit ein in einen kreativen spielerischen Prozess des Erkenntnisgewinns.