"Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, // Und neues Leben blüht aus den Ruinen." - Friedrich Schiller, Wilhelm Tell IV,2
Bei erster Betrachtung mag dies der Ansatz sein für die 6 ausgestellten Archivfotos im Düsseldorfer Malkasten. Wir sehen das angestammte Haus der Künstlervereinigung in verschieden Zuständen vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 1943 begegnet uns die innere Treppenlandschaft noch unversehrt, aber fast ein bisschen leblos und geradezu abstrakt. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren dann das komplette Gegenteil: die Fotos der Jahre 1945 und 1948 zelebrieren Menschen in all ihrer Lebenskraft, wie sie etwa das Wappen des Malkastens bergen oder in den Trümmern sich, den Verein und das Leben feiern. In seinen Memoiren beschreibt Helmut Hentrich, Mitglied, Vorstandsvorsitzender und späterer Wiederaufbauarchitekt des Malkastens, diese Abende, die schon unter anderem von der englischen Besatzungsmacht und deren Alkoholvorräten profitierten.
Ist die Auswahl, die wir hier sehen, also ein künstlerischer Blick in die Vergangenheit des 1848 gegründeten Künstlervereins? Schon beim zweiten Blick wird deutlich, dass dieser Ansatz nicht ausreichend ist. Die ausgestellten Fotografien sind nicht die Originale, es sind Reproduktionen, die auch keinen Zweifel an ihrer eigenen Natur lassen. Durch die abgebildeten Archivtüten mit aufgeschriebenen Nummern wird nicht nur der situative Kontext deutlich, auch die Schneidematten und nicht zuletzt das beschnittene Foto distanzieren uns vom historischen Moment im Bild und verweisen uns auf den konkreten fotografischen Abzug.
Historische Objekte neu zu arrangieren, sie zu reproduzieren und zweckzuentfremden, ihren bisherigen Kontext zu hinterfragen und gegebenenfalls auch Eingriffe vorzunehmen; für diese Auseinandersetzung mit Orten, ihrer Geschichte und deren Geschichten sind die beiden von Katja Stuke eingeladenen Künstler, Daniel Poller und Christoph Westermeier, bekannt. Zwei Beispiele sollen den Anknüpfungspunkt beider Künstler zueinander und zur Ausstellung „Trümmertanz“ verdeutlichen:
Daniel Poller hat sich mit dem Wiederaufbau des Braunschweiger Stadtschlosses in seiner Serie „Der große Gewinn“ (2017) auseinandergesetzt, in der er historischen Schlossansichten aus einem Kalender des Museumsshops in 11 Pigmentdrucken vergrößerte und danach Stellen wortwörtlich ausradierte. Christoph Westermeier hat 2016 mit seiner ganz eigenen Variante der Kavalierstour die Fragen gestellt was wir sehen wollen, was wir sehen sollen, und was wir tatsächlich sehen. Fotografien aus Istanbul, Moskau, Neapel und Yekaterinburg zeigen Fassaden, Scheinfassaden, Bauplanen mit aufgedruckten Fassaden und den Künstler in klassischer Posen zwischen Ruinen. Oft sind Orte bzw. Ebenen nicht ganz zu erfassen und die Frage nach echt oder unecht, authentisch oder (dar)gestellt lässt sich nicht immer beantworten.
Daher wundert es nicht, das sich in dieser gemeinsamen Ausstellung nach jedem Blick weitere Ebenen eröffnen. Die Fotografien aus dem Archiv des Malkastens bilden lediglich den Ausgangspunkt für ein Ausstellungskonzept, das eine größere Installation hervorbringt. Neben den klassisch präsentierten Reproduktionen der Archivbilder haben sich die Künstler mit einem weiteren Aspekt des Hauses auseinandergesetzt: dem mehrteiligen Tapetenfries mit der Darstellung der Geschichte von Armor und Psyche in einzelnen großen Tableaus. Diese Tapete, ca. 1815-16 bei der Pariser Manufaktur Dufour et Cie herausgebracht, stellt ein beliebtes Motiv dar, das in sich schon mehrere Bedeutungswandlungen erlebt hat. Heutige Darstellungen greifen vor allem auf die Schöpfung des Schriftsteller und Philopsophen Apuleius aus dem 2. Jahrhundert zurück, der in seinem Roman Metamorphosen die Geschichte von Amor und Psyche als eine Geschichte in einer Geschichte einbettet in die Erzählung über das Mädchen Charite. Wie üblich stehen dabei heimliche Liebe, antike Rätsel, Heldinnenaufgaben, Verbote und deren Missachtung sowie Ränkespiele im Zentrum. Es gibt aber ein Happy End, bei dem die Liebe siegt und Psyche sogar von Göttervater Jupiter selbst zur Unsterblichen erhoben wird. In der bildenden Kunst ist hat sich das Liebespaar vielfältig manifestiert und ist schließlich zu einem beliebten Dekorationselement geworden. Allein in Deutschland finden sich mehrere historische Beispiele in Museen und Schlössern, in denen eine Wand oder ein Raum mit der (Bilder)Geschichte von Amor und Psyche tapeziert ist. Im zweiten – aber untrennbaren – Teil ihrer Installation dekonstruieren Poller und Westermeier den Tapetenfries – der ohnehin schon nicht ganz vollständig und in etwas verdrehter Reihenfolge im Jacobihaus angebracht ist – und konzentrieren den Blick auf Details. Dabei stellen sie erneut Metaebenen her, indem sie gerade die Schäden und Fehlstellen nicht ignorieren oder gar retouchieren, sondern ganz im Gegenteil ins Zentrum rücken. Diese scheinen vor allem von Getränke feuchtfröhlicher Feierlichkeiten zu stammen.
Die Reproduktionen der Tapetenbilder stellen also – genau wie die der Archivbilder – einen Bezug zur Welt außerhalb der eigenen Bildwelt her. Spuren vergangener Feste sind unauslöschlich in die Bildwelt von Amor und Psyche eingedrungen.Poller und Westermeier haben ihre Auswahl von 22 Bildern Stoß an Stoß reproduziert, und diese 111x335m großen Bahnen beidseitig hängend über 11 handelsüblichen Hängesystemen installiert, wie man sie für austauschbare Hintergründe in Fotostudios benutzt. Die 1,90m hohen Gestelle fügen ein starkes, neues Element für den Betrachter hinzu: die Bewegung. Man wird man von den kontextlosen Details und den zerfallenen Formen eingefangen und wieder abgestoßen, verwirrt und verzückt.
Hier scheint sich auch die Fragestellung zu akkumulieren, die sich immer um die zwei Wörter aus dem Titel dreht: Trümmer und Tanz. Doch es gibt selbstverständlich noch eine weitere Bedeutungsebene, die uns vor die Frage stellt: wie gehen wir mit Zerstörung, mit Schäden in unserem Lebensumfeld, mit Ruinen um? Ganz nüchtern betrachtet gibt es mehrere Möglichkeiten. Die Entscheidungsfindungen für oder gegen eine Lösung sind oft langwierig, diskussionsreich, emotional und auch immer eine Frage der Finanzierung. Man kann etwas Zerstörtes vernichten um Platz für Neues zu schaffen. Dies wird meist für als historisch unbedeutend angesehene Gebäude angewandt, und so finden sich in vielen deutschen Städten Nachkriegsstadtlandschaften, die ihrerseits jetzt in einer Art Kreislauf wieder einer Modernisierung weichen müssen. Man kann die Ruine oder die Beschädigung bewahren, als Zeuge einer (Objekt)Geschichte. Manchmal ergeben diese bewahrten Ruinen ein Mahnmal, meist handelt es sich aber um unwiderlegbare Beweise einer Vergangenheit, die man im bestmöglichen Zustand bewahren aber unter keinen Umständen verfälschen will. Die „erhabene“ Ruine in künstlerischen Bildwerken zeugt aber oft auch von einem heroisierten, oft nicht historisch belegbaren „Goldenen Zeitalter“. Man kann Zerstörtes oder Beschädigtes wiederaufbauen oder restaurieren. Oft werden bei dieser Methode auch alte Teile in neue integriert. Dies trifft auch auf das Jacobihaus zu.
Das 1861 vom Künstlerverein Malkasten erworbene Haus des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) mit großangelegtem Garten war bereits damals ein historischer Ort, an dem sich Ende des 18. Jahrhunderts der Jacobi-Kreis traf, von dem wichtige geistesgeschichtliche Impulse ausgingen. Nach mehreren Maßnahmen zur Finanzierung zog der Malkasten am 14. Juli 1860 feierlich in den Garten ein. Am 18. Juli 1864 wurde der Grundstein für das Fest- und Gesellschaftshaus gelegt, welches am 14. Mai 1867 eingeweiht wurde. 1947/49 wurde das beschädigte Jacobihaus rekonstruiert. Hierbei ist aber zu bedenken, dass das Vereinsgebäude des Malkastens heute eigentlich aus zwei Gebäuden besteht, dem „Jacobihaus“ und dem „Hentrichhaus“. Die Architekten Helmut Hentrich und Hans Heuser waren für den Wiederaufbau verantwortlich und der zu stark zerstörte Teil wurde 1951 abgerissen und drei Jahre später durch ein modernes Eingangsgebäude ersetzt.
In einer Drehbewegung sind wir doch wieder beim Feiern und Tanzen gelandet. Und wie beim überschwänglichen Tanzen und Feiern weiß man am Ende vielleicht nicht mehr, wo oben und unten ist, was Bestand hat und was nur der Augenblick verspricht. Wir nehmen ortsspezifische Situationen oft als gegeben hin; etwas sieht historisch aus, also ist es das wahrscheinlich auch. Doch dabei können Bruchstücke verschwinden, Einzelteile neu verortet werden – wie etwa die Treppe im Inneren des Jacobihauses, die bei der Rekonstruktion aus einem anderen beschädigten Haus entnommen und hier eingesetzt wurde – oder ganze Ortsgefüge neu entstehen. Immer mehr Fragen drängen sich auf: Was ist Fassade, was ist echter Kern? Ist Rekonstruktion ein Mittel um Geschichte zu bewahren oder Augenwischerei, ein Festklammern am Vergangenem? Was ist authentisch? Was bedeutet authentisch? Was bedeutet mir Authentizität?
Im Rückblick auf das Schillerzitat ist zu sagen, dass tatsächlich Neues aus Ruinen aufblüht; sei es neuer Lebensmut, eine Aufbruchstimmung oder neue Gebäude (egal ob rekonstruiert oder Neubau). Aber das ist nur der Anfang; die Entscheidung, wie man mit Trümmern umgeht, ist nur der erste Schritt. Die weiteren danach können diese Entscheidung hinterfragen, und dabei ganz wertfrei – aber nicht unkritisch – einen neuen Blick drauf werfen und vielleicht zukünftige Entscheidungen neu gestalten.
Durch die Arbeit von Daniel Poller und Christoph Westermeier werden unsere Sehgewohnheiten auf die Probe gestellt und wir werden aus unserem gewohnten Tritt gebracht um eine Umdrehung mehr zu machen, zu taumeln und uns neu zu sammeln, und am Ende eine neue Perspektive einzunehmen. Wie im Tanz muss man sich durch diese sich auflösende Bilderwelt hindurch bewegen und verliert fast wie im dionysischen Rausch den Halt. Viel näher kommt man ohne entsprechende Getränke der Feiervergangenheit im Malkasten wohl kaum.
Ines Rüttinger