Die Zierfassade des Braunschweiger Stadtschlosses – durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört und 1960 abgerissen – existiert seit 2007 wieder als ein mit wenigen Originalsteinen durchsetzter Nachbau. Dahinter, im Hauptgebäude, in den anschließenden Flügeln und im Ehrenhof ist ein Einkaufszentrum im Antlitz zeitgenössischer Glasfassadenarchitektur untergebracht. Die komplexe Geschichte zum Wiederaufbau und Zerstörung des Schlosses verhandelt der in Berlin und Leipzig tätige Künstler Daniel Poller (Jahrgang 1984) in seiner aus elf Pigmentprints bestehenden Serie „Der große Gewinn“ von 2017.
Es handelt sich um eine Art Negativmalerei, insofern als die Leinwand die Bilder bereits als Druck enthält und der formgebende Pinsel Löschspuren hinterlässt. Ausgangspunkt für die Werkgenese sind hierfür ein Kalender mit historischen Ansichten des Schlosses und ein Radiergummi mit dem Aufdruck der Welfen-Krone – beides vor Ort im Schloss-Museums-Shop erhältlich. Poller reproduzierte und vergrößerte die Kalenderblätter. Dann optimierte er die Neudrucke teilweise mit dem Radiergummi, der bezeichnenderweise durch seinen heraldischen Aufdruck auf den ehemaligen Schlosseigentümer verweist. Der Eindruck entsteht, dass der Eigentümer die Aktion des Ausradierens seiner fotografierten Bausubstanz sogar legitimiert hätte. Die entstandenen weißen Bombenkrater sind allerdings nicht zur freien künstlerischen Gestaltungsfläche ausgeschrieben worden, um einen piktoralen Neubau der Schlossansichten zu betreiben.
Im Gegensatz hierzu steht das historische Gelände des Braunschweiger Schlosses, dass durch die Architektur eine zeitgenössische Überschreibung erfahren hat, in der Wirtschaftsinteressen und Kulturpolitik eine idealtypische Symbiose eingegangen sind. Als vermeintliche Rettungsaktion für das Stadtbild repräsentiert dieser Neubau eine unveränderliche, weil materiell gewordene Totalinterpretation der Vergangenheit. Der architektonische Wahrheitsanspruch speist sich dabei größtenteils aus der zweidimensionalen Welt der Fotografie. Doch dieser Bildspeicher zum Braunschweiger Schloss besitzt keinen Vollständigkeitsanspruch. Er ist zufällig im Zeit- ausschnitt, subjektiv in der Motivauswahl und behauptet allein durch sein apparatives Zustandekommen Objektivität.
In Analogie hierzu stehen Pollers manuelle Ausradierungen der Bildoberfläche. Er löscht mit dem skeptischen Bewusstsein, dass Fehlinterpretationen bei der Inanspruchnahme von Geschichte unvermeidbar sind, die intakten Bildzeichen gezielt auf den historischen Fotografien zum Braunschweiger Stadtschloss aus und verlagert dabei die künstlerische Perspektive von der passiven Dokumentation zur aktiven Dekonstruktion der Schlossarchitektur. Es handelt sich dabei, so könnte man meinen, um eine Art konstruktiv ikonoklastischer Unruhe des Künstlers im Umgang mit vorhandenen Fotografien und deren Verwendung.
In „Der große Gewinn“ wird Historie als visueller Freiraum artikuliert, der im Kontrast zu der als „Originalrekonstruktion“ bezeichneten Zierfassade des Schlosses steht und mit kritischem Blick den Prozess der Aneigung und Interpretation der Vergangenheit fortschreibt.
Marcus Andrew Hurttig